Ganz China wird vom Kapitalismus beherrscht. Ganz China? Nein! Ein unbeugsames Maoisten-Dorf im Herzen des Landes leistet Widerstand. Aber: Kann es überhaupt einen richtigen Kommunismus im falschen geben?

PDF lesen

Abrupt verstummt die lärmende chinesische Gegenwart: keine Neonreklamen mehr, keine Autos, keine Shoppingmalls, keine Restaurants. Es ist Mittagszeit, und gerade eben, um Punkt 11.30 Uhr, haben Lautsprecher von den Dächern die Strophen des Propagandaklassikers „Mao ist unser Steuermann“ durch die Straßen gejagt. Mit Lebensmittelcoupons in den Händen trotten die Arbeiter aus den umliegenden Fabriken in die Volkskantinen, flanieren über den Dorfplatz, in dessen Mitte eine kalkweiße, neun Meter hohe Statue des Großen Vorsitzenden wacht, eingerahmt von einem gigantischen Regenbogentor mit leuchtenden Schriftzeichen: „Mögen die Gedanken Maos uns ewig den Weg bestrahlen.“

China, das Boomland des Turbokapitalismus?

Nicht hier in Nanjiecun, dem „Dorf der südlichen Straße“ in der Zentralprovinz Henan, gut 700 Kilometer südwestlich von Beijing. Zwischen staubiger Hochhauslandschaft, gleich hinter einer scharfen Kurve an der Nationalstraße G107, dämmert ein Örtchen vor sich hin, in dem das Leben in den 1970er Jahren stehen geblieben zu sein scheint: Kahle Flachbauten reihen sich entlang leerer Boulevards, über die sich vereinzelte Tuk-Tuks und Radfahrer schieben. Privat geführte Geschäfte findet man nicht; alle Bewohner arbeiten in Staatsbetrieben und werden jeden Morgen um 6.30 Uhr vom Revolutionsschlager „Der Osten ist rot“ geweckt; zum Feierabend erschallt das Lied „Der Sozialismus ist gut“. Neben der Mao-Statue auf dem Dorfplatz prangen auf überlebensgroßen Standporträts: Marx, Engels, Lenin und Stalin.

Doch einer fehlt: Deng Xiaoping, der das Land in den 1980er Jahren mit seiner Politik der Öffnung auf einen neuen Weg gebracht hat – der hat hier offiziell nie existiert.

Nanjiecun ist ein realsozialistisches Nimmerland, das letzte in China: Alle Häuser, alle Fabriken gehören der Gemeinde. Jeder der 3200 Bewohner hat Anspruch auf ein Rundum-sorglos-Leben: Miete, Essen, Schulgebühren, Arztkosten, alles zahlt der Staat.

Ein rotes „Asterix-Dorf“, in einem Land, das seine sozialistischen Grundsätze längst über Bord geworfen hat.

Wie geht das?

1,4 Milliarden Chinesen marschieren Richtung Marktwirtschaft – und ein paar Tausend genau in die andere? Kann es das geben: einen richtigen Kommunismus im falschen? Echte linke Gesinnung inmitten von nur noch vorgetäuschter?

EIN DIENSTAG MORGEN im Juli, vor dem Dorfhotel wartet der örtliche Propagandadirektor. Unser Telefonat war ungewöhnlich zuvorkommend gewesen: Anderswo in China schicken Provinzbehörden Spitzel oder Schläger, wenn ausländische Reporter sich ankündigen. In Nanjiecun schickte man einen Minibus mit Fahrer.

Das Besuchsprogramm startet nach Plan: Wie von Geisterhand angeworfen, sprudelt in der Einfahrt ein rostiger Springbrunnen los. In der Lobby simulieren umherhuschende Servicedamen Geschäftigkeit. Der Teppich riecht nach nassem Hund. Andere Gäste sind nicht zu sehen. Umso präsenter ist der Große Vorsitzende. An der Wand: Mao-Poster. In der Vitrine: Mao-Postkarten, Mao-Broschen, Mao-Tassen. „Jeder will hier leben“, sagt Sheng Ganyu im fröhlichen Singsang-Dialekt der Region. Der Propagandachef ist Ende 40, ein Mann wie aus einem Schwarz-Weiß-Spionagefilm, mit Erich-Honecker-Brille und Föhnfrisur. Nanjiecun, sagt er, sei „ein Sehnsuchtsort für ganz China“.

Die Erfolgsgeschichte, die das Dorf der Außenwelt verkauft, geht so: Im Rest der Volksrepublik wurde Staatseigentum an Privatleute übergeben, wuchsen Häuser immer höher in den Himmel, wurden die Bankkonten der Reichen immer voller. Zugleich krochen soziale Kälte und Ungleichheit in die Gesellschaft. Nur nicht in Nanjiecun – denn hier bestimmt weiterhin das Kollektiv. Hier siegt noch immer der Gruppengeist. Ein Fortschrittsutopia, ganz im Sinne des Großen Vorsitzenden.

Dieser Sonderweg wurde schon früh in den 1980er Jahren beschritten, da war der Reformer Deng Xiaoping noch keine fünf Jahre im Amt. Deng stellte die maoistische Politik auf den Kopf: Öffnung statt Abschottung, Konsum statt Klassenkampf. All das habe damals zu Unmut in der Bevölkerung geführt, so lautet die offizielle Geschichtsschreibung in Nanjiecun. Löhne seien nicht ausbezahlt, Arbeiterrechte missachtet worden. Propagandadirektor Sheng sagt: „Unsere Massen wollten das Kollektiv zurück.“

Ab 1984 schlug Nanjiecun unter der Führung seines jungen, entschlossenen Dorfchefs den Rückwärtssalto: Die Gemeinde übernahm allen Privatbesitz. Und machte wieder einen Plan.

EIN SOLCHER ALLEINGANG ist eine Anomalie, ja, aber im politischen System Chinas auch kein Ding der Unmöglichkeit. Anders als oft vermutet wird, ist die Volksrepublik keine monolithische Diktatur: Das autoritäre Regime in Beijing ist pragmatisch genug, um hier und da im Land Ausnahmen zuzulassen – wenn es nützlich erscheint. So durften etwa, was der Öffentlichkeit lange verschwiegen wurde, die Bewohner einiger ausgewählter Kleinstädte in China jahrzehntelang zwei Kinder bekommen statt nur eines. Die Behörden wollten eine Alternative zur geltenden Ein-Kind-Regelung testen – ähnlich wie Forscher, die für Studien Kontrollgruppen heranziehen.

Nanjiecun war von Beginn an ein Lieblingsexperiment der Parteilinken. Seit China sich wirtschaftlich öffnete, lieferten sich Deng-Kritiker immer wieder erbitterte Richtungskämpfe mit dem Reformflügel. Die kleine rote Bastion im Landesinneren kam da wie gerufen – konnte Nanjiecun doch von den Linken als lebender Beweis für die Überlegenheit der Planwirtschaft gefeiert werden. Und von den Reformern als Beweis dafür, dass sie die alten Werte nicht vollends verraten.

Ökonomisch lief es erst einmal gut für das Dorf: Maos Tochter Li Ne und bekannte Führungspolitiker outeten sich als Fans, Banken boten großzügig Kredite an, die Zahl der ansässigen Fabriken stieg rasch von zwei auf 26 an. Insbesondere die scharf gewürzten Instantnudeln Marke „Nanjiecun Ramen“ und die Schokoladensnacks der dorfeigenen „Volksbetriebe“

wurden landesweit zum Verkaufserfolg. Aufgrund der puristisch-planwirtschaftlichen Herstellung gewährte Beijing den Edelkommunisten sogar Wettbewerbsvorteile, so der Propagandadirektor: Zeitweilig durften Lastwagen aus Nanjiecun in die Hauptstadt fahren, ohne Maut zu zahlen.

Zwischen 1989 und 1997 vervielfachte sich der Umsatz der Dorfbetriebe von 21 Millionen auf 1,6 Milliarden Yuan. Irgendwann stiegen sogar Investoren aus Japan und Großbritannien ein – die Schokosticks werden seither unter anderem von der britischen Supermarktkette Tesco verkauft.

SHENG WINKT JETZT ein Buggy-Car mit roten Samtbezügen heran, eine Frau in Retro-Uniform steuert den Wagen. Routiniert wie ein Reiseleiter spult der Propagandachef die wichtigsten Stationen ab, das Dorfmuseum, die drei Supermärkte, den Erlebnispark mit der Eins-zu-eins-Kopie von MaosGeburtshaus.

Das Highlight des ersten Nachmittags ist die „Glückssiedlung“: Alle 3200 Bewohner des Ortes leben hier in identischen Reihenapartments, ausgestattet mit den gleichen Möbeln, Fernsehern, Mao-Büsten und elektronischen Wanduhren mit Mao-Emblem. „Nur das Aquarium und die Fische habe ich selbst gekauft“, sagt eine grau melierte, gebückte Frau, die im Parterre in Wohnblock 15 die Tür öffnet.

Die Modellbewohnerin heißt Wang Chunyu, ist 62 Jahre alt und lebt zusammen mit Mann, Sohn, Schwiegertochter und Enkelkind. Ihr Gehalt als Putzfrau in einer Kartonfabrik ist gering, etwa 75 Euro. Ihr Sohn und ihr Mann, Angestellte in einer Druckerei, bringen kaum mehr nach Hause. Dafür hat die Familie aber fast keine Ausgaben: Neben der Miete übernimmt der Staat auch Wasser-, Strom-, Gas- und Telefonkosten und zahlt ein monatliches Guthaben für Lebensmittel. Dazu bekommt jeder Einwohner 15 Kilogramm Mehl, für Feiertage gibt es Extrageld. Selbst die Hochzeit des Sohnes hat der Staat ausgerichtet: Einmal im Jahr veranstaltet das Dorf eine Gruppenhochzeit, am 1. Oktober, dem Jahrestag der Gründung der Volksrepublik.

Auch Wangs Tochter, die ihrem Mann eine Zeit lang in den Nordosten des Landes gefolgt war, ist wieder heim ins Dorf gekommen. „Draußen war das Leben hart für sie“, erzählt Frau Wang. Draußen, das ist: Wettbewerb, Konkurrenz, Unsicherheit. „Hier in Nanjiecun haben wir keine Sorgen“, fährt sie mit eingeübter Erleichterung fort.

Propagandadirektor Sheng sieht zufrieden aus. Er selbst ist einer von knapp 1000 Zugezogenen, die über die Jahre ins dörfliche Sozialsystem eingewandert sind. Neubewohner müssen dazu die „Drei-Gut-Kriterien“ erfüllen: gesund sein, ideologisch treu und berufserfahren.

Sheng stammt ursprünglich aus einem Nachbarort. Nanjiecun erschien ihm als Insel der Glückseligen. 1994 sah er dann, wie der „Klassenführer“ im Fernsehen auftrat – so nennen die Dorfbewohner ehrfürchtig ihren Parteisekretär. Der „Klassenführer“ sagte, Nanjiecun sei eine große Familie. Nanjiecun suche Talente. Sheng packte seine Sachen.

SEIT NUNMEHR 39 Jahren ist der Parteisekretär im Amt: Wang Hongbin, ein rundlicher, durchaus charismatischer Mann mit gutmütigem Buddha-Gesicht, die Hose zusammengehalten von einer Gürtelschnalle mit rotem Strass-Stern, an den Füßen militärgrüne Baumwollschlappen für zwei Euro.

Der Dorfchef empfängt im Rathaus, einem braunen Betonkasten, am Ende eines menschenleeren Flurs. Der Sohn armer Schweinebauern, Jahrgang 1951, diente sich schnell in der Partei hoch, 1977, ein Jahr nach Maos Tod, übernahm er mit 24 Jahren das Ruder im Dorf. Und wurde zum Erfinder des Sonderwegs.

Wang ist ein unerschütterlicher Altkommunist, der sich vom Zeitgeist nicht beirren lässt: Das Dorf verlässt er nur selten, alle fünf Jahre reist er nach Beijing zum Parteitag. Mit dem Wachstum der Hauptstadt sei er aber irgendwann nicht mehr mitgekommen, sagt er. Seit dem 15. Parteitag, also Ende der 1990er Jahre, gehe er nach dem Abendessen eigentlich immer gleich wieder zurück ins Hotel.

Seine Tage verbringt er heute weitgehend ungestört zwischen Büchern, Mao-Devotionalien und Aktenstapeln. Nur gelegentlich reißt ihn der Uhu-Klingelton seines Klapphandys aus der Ruhe.

„Die Chinesen vermissen Mao“, ist der Dorfchef überzeugt. Diesen starken Mann und seine Versprechen von Gleichheit und Solidarität. Denn das Leben in China ist kompliziert geworden: Der Kommunismus ist für Leute wie Wang bloß noch Etikettenschwindel. Die Korruption ist nicht einzudämmen. Jeder kämpft für sich allein.

In Nanjiecun herrscht dagegen zumindest scheinbar noch so etwas wie heile Welt: Jung und Alt treffen sich nach der Schicht und singen im Park gemeinsam Revolutionslieder.

Auch anderswo hat Mao in diesen Tagen wieder Konjunktur: Jährlich touren Millionen entlang der Schauplätze des Langen Marsches, jener Militäroperation, bei der der Große Vorsitzende seine Macht gefestigt hatte. Junge Großstädter flüchten sich vor Leistungsdruck in nostalgische Kommunen. Und selbst Präsident Xi Jinping greift in öffentlichen Reden immer öfter in die maoistische Rhetorikkiste, um Missstände der Moderne zu geißeln.

Auch Dorfchef Wang ist nachdenklich. „Man kann schon der Ansicht sein, dass wir in China vom richtigen Pfad abgekommen sind. Viele denken bloß noch an Geld.“

Ist das schon Systemkritik?

Überhaupt nicht, Wang wiegt buddhahaft seinen Kopf hin und her. „Solange die Kommunistische Partei regiert, ist China ein kollektivistisch geführtes Land.“

Aber außerhalb des Dorfes regiert doch der Raubtierkapitalismus? Ist Nanjiecun nicht die dorfgewordene Mahnung, was laut Propaganda sein sollte, aber nicht mehr ist?

Der Klassenführer lächelt. Und schweigt.

ZUM WESEN DES MYTHOS gehört es ja, dass er oft über die Wahrheit siegt: Lupenrein planwirtschaftlich geht es in Nanjiecun dann doch nicht zu. Auch die „Volksbetriebe“ betreiben kapitalistisches Marketing, um ihre Ware loszuwerden. Ein Großteil der Einnahmen, und damit auch der Sozialleistungen, wird ohnehin nicht von den Einheimischen, sondern von mindestens 5000 Leiharbeitern aus Nachbardörfern erwirtschaftet, die selbst keinerlei Ansprüche auf die Nanjiecuner Wohlfahrtsleistungen haben.

Am zweiten Nachmittag meines Besuchs, als der Propagandachef beim Interview in der Nudelfabrik in der Sofaecke wegnickt, flüstert der dortige Geschäftsführer: Korruption, die gebe es schon auch in Nanjiecun. Kader, die hier mal eine Million Yuan abzweigen, dort eine. Die vom Gemeindegeld Luxuswohnungen in anderen Städten kaufen.

Und schließlich sind da noch die maroden Dorffinanzen: 2008 hatte eine Zeitung enthüllt, dass das Wirtschaftswunder von Nanjiecun auf faulen staatlichen Krediten fußte. Nur dank eines Schuldenerlasses konnte der Bankrott noch abgewendet werden. Ob die Betriebe inzwischen rentabler arbeiten, darf zumindest bezweifelt werden.

Wie geht das alles zusammen? Warum bricht der Mythos nicht unter der Beweislast der Realität zusammen? Dieser Frage kommt man nur näher, wenn man sie einem Experten stellt: dem Politikprofessor aus Xi’an zum Beispiel, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will. Das Gelingen des Experiments von Nanjiecun sei ein wichtiges Symbol, sagt er: „Ein Beleg, dass die propagierte Planwirtschaft zumindest irgendwo im Land noch existiert und funktioniert. Natürlich ist China in der Praxis ein kapitalistisches System. Aber die Staatsideologie ist sozialistisch. Und die braucht zumindest eine solche Story.“

Es ist vielleicht das Wesen eines „Sozialismus mit chinesischer Prägung“, dass diese nirgendwo näher definierte „chinesische Prägung“ offenbar alle Widersprüche aufzulösen vermag.

Im Laufe meines Besuchs wächst schleichend der Verdacht, es hier mit einem Potemkinschen Dorf zu tun zu haben: Wo sind denn all jene jungen Leute, die an den Toren Nanjiecuns um Einlass bitten? Im „Rekrutierungsbüro“, wo sich angeblich jeden Tag Dutzende melden, sind sie jedenfalls nicht.

Einige arbeiten in der Propagandaabteilung, der Herr Sheng vorsteht. Dort sind Lokalzeitung, Fernsehstation und Radiosender untergebracht, der Job seiner Mitarbeiter ist die „Gedankenerziehung“ der Bewohner. 5500 Exemplare der Lokalzeitung werden wöchentlich gedruckt, sagt Sheng, und „in alle Teile des Landes verschickt, an Arbeiter, Bauern, hochrangige Beamte und Gelehrte“. Liebhaberlektüre für Mao-Nostalgiker, wenn man so will.

Gerade wird die nächste Ausgabe layoutet: Nanjiecuns Weizenlager hat seinen Bestand von acht auf 20 Tonnen steigern können, lautet eine Schlagzeile. Die Redakteurin, die an der Seite sitzt, trägt High Heels mit Leopardenmuster. Mit der Rechten hantiert sie am Computer herum, mit der Linken klickt sie sich durch ein Modeblog auf ihrem iPhone 5. Nach der Arbeit fahre sie zum Shoppen in die Mall der Kreisstadt, erzählt sie, oder treffe sich mit Freunden dort zum Karaoke.

WIE VIELE JUNGE LEUTE gehen fort? Kaum jemand, behauptet Sheng. Allerdings sei der Kontakt mit der Außenwelt nicht immer zu vermeiden, räumt er ein. Manche infizierten sich dabei mit neuen Ideen. „Wollen Geld verdienen.“

Für das, was dann folgt, hat der Klassenführer die Formel „9 + 1 = 0“ geprägt: neun Tage zu Hause, ein Tag draußen, schon ist das schöne rote Weltbild quasi auf null reduziert. „Aber sobald sie sich draußen die Kopfhaut blutig geschlagen haben, kommen sie oft reuig nach Hause geschlichen“, schiebt Sheng mit Genugtuung hinterher.

Gleich hinter dem leuchtenden Regenbogentor, vor dem der Große Vorsitzende als Statue wacht, hört Nanjiecun auf und Zhuzhai beginnt, eine lebhafte Nachbargemeinde mit Imbisssalons und Internetcafés. Die meisten Menschen, die man hier antrifft, jobben in Nanjiecun. „Klar, die Sozialleistungen hätten wir auch gern“, heißt es hier. Vom roten Propagandakult aber zeigen sie sich unbeeindruckt. „Das mit Mao ist doch nur eine Show der Verwaltung“, meint einer.

AM MEINEM LETZTEN MORGEN in Nanjiecun tröpfelt Sommerregen auf den Boulevard. Im Dorftheater probt die Schule eine Modelloper, so heißen die Propagandaschmonzetten, die Maos Ehefrau Jiang Qing während der Kulturrevolution aufführen ließ. Vorhang auf, Lautsprecher an. Eine Gruppe Mädchen in roten Trainingsanzügen marschiert auf die Bühne. Sie tanzen in Reih und Glied, wedeln synchron mit Plastikblumen. „Der Osten ist rot, die Sonne geht auf“, singen sie. „Wo es eine Kommunistische Partei gibt, hurra, da ist die Befreiung des Volkes.“

In der Pause geht Qu Ying, 15, an die frische Luft. Ying besucht die 11. Klasse, der Vater führt beim Stück Regie, ihre Mutter ist Schauspielerin. Die weiteste Reise, die sie bislang unternommen hat, war ein Tagestrip in die Provinzhauptstadt. Die Hochhäuser, die vielen Geschäfte, das hat ihr gut gefallen. Noch schöner findet sie aber die Skyline von Shanghai, die ab und zu im Fernsehen gezeigt wird. Dort zur Universität gehen, „das ist mein Traum“. Was möchte sie denn studieren? Das Mädchen blickt zur Seite. Der Propagandadirektor telefoniert gerade. „ Internationale Wirtschaft“, schießt es aus ihr hervor. Kommt sie später wieder?

Ying zuckt mit den Schultern.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert